Die evolutionäre Medizin wendet Kenntnisse und Methoden der Evolutionsbiologie an, um Gesundheit, Krankheiten und deren Determinanten besser zu verstehen. Sie geht dabei davon aus, dass unser Körper und seine Reaktionen auf Umweltbelastungen ein Resultat von biologischen Anpassungsvorgängen im Laufe unserer Evolution darstellen. Durch diese Herangehensweise erhofft man sich neue Therapieformen und Präventionsmöglichkeiten.
Typische Fragestellungen der evolutionären Medizin sind: warum wurden Gene, die Krankheiten begünstigen, während unserer Evolution nicht ausgemerzt? An welche Umwelt und Ernährung sind wir angepasst, und was bedeutet dies für unsere Gesundheit in der modernen Welt? Gibt es heute noch natürliche Selektion beim Menschen und wie wirkt sie sich aus? Wie sieht der Mensch der Zukunft aus? Auch die Ko-Evolution mit Mikroorganismen, Antibiotikaresistenz, psychische Anpassungen und die Entstehung von Krebs sind Ziele von evolutionsmedizinischen Untersuchungen.
Bezeichnend für die Evolutionsmedizin ist ihre ausgeprägte Interdisziplinarität. So arbeiten Ärzte, Anthropologen, Genetiker, Biologen, Epidemiologen und Historiker Hand in Hand, um den Geheimnissen der menschlichen Anpassungen und der Entstehung von Krankheiten auf die Spur zu kommen. Dabei werden modernste Methoden angewandt. Ganz wichtig sind genetische Untersuchungen, die vergleichend zwischen menschlichen Populationen, zwischen Tieren und Menschen oder zwischen Menschen unterschiedlicher Epochen durchgeführt werden. Die Untersuchung des Genoms längst verstorbener Menschen ist besonders aufwändig, da sie in hochreinen Laboratorien geschehen muss, um die Verunreinigung mit heutiger DNA zu vermeiden. Des Weiteren werden modernste bildgebende Verfahren wie 3D Technik oder mikro-CT angewandt, um die Anatomie lebender oder längst verstorbener Menschen zu untersuchen. Auch die Epidemiologie von Krankheiten in heutiger oder vergangener Zeit kann Hinweise auf deren Entstehung liefern.
Gute Resultate wurden bisher vor allem bei der Erklärung der Entstehung verschiedener Krankheiten erzielt. So erklärt man sich die starke Verbreitung von so genannten Zivilisationskrankheiten vor allem durch unseren modernen Lebensstil mit einem Überschuss an Nahrung und wenig Bewegung. An solche Bedingungen sind wir nicht angepasst, und dieser „Mismatch“ kann daher zu Krankheiten führen. Gleichzeitig hat man aber an fossilen Menschen und an Mumien festgestellt, dass auch Menschen die vor tausenden oder gar hunderttausenden von Jahren lebten bereits an Krankheiten wie Gelenksarthrose oder Arterienverkalkungen litten. Dies zeigt uns die Komplexität der Entstehung von Krankheiten auf. Weitere Untersuchungen sind nötig, um diese Zusammenhänge besser zu verstehen, wie zum Beispiel am Institut für Evolutionäre Medizin der Universität Zürich, Schweiz (Nicole Bender).