Die Prähistorische Anthropologie erforscht die körperlichen Relikte anatomisch moderner Menschen des Holozäns. Mehrheitlich sind dies archäologische Skelettfunde nach Erd- oder Feuerbestattung, seltener Mumien, aber auch weitere auf den Menschen bezogene biologische Überlieferungen wie z.B. Parasiten oder konservierte DNA von Krankheitserregern. Übergeordnetes Ziel ist die Erschließung menschlicher Populationsentwicklung in Raum und Zeit.
Am Beginn der Forschung steht die Osteologie, die makroskopische Identifikation der überlieferten Skelette oder deren Teile, und die Erhebung basisbiologischer Daten wie Geschlecht, Sterbealter, Größe und Proportionen, alltagsspezifische Aktivitätsmuster, diagnostizierbare Erkrankungen, sowie gegebenenfalls auch die Todesursache. Diese Individualdiagnose wird durch mikromorphologische und bildgebende Verfahren ergänzt. Anschließend erfolgt die Zusammenfassung aller Individualdaten zu Kollektivdaten, welche der Rekonstruktion des demografischen Profils der ehemaligen Bevölkerung dienen. In Abhängigkeit von der spezifischen Fragestellung werden auch die stofflichen Komponenten des Skelettes untersucht sofern diese hinreichend konserviert sind. Hierzu zählen Proteine (derzeit zumeist Isotopenanalysen von Kollagen; neue Perspektiven ergeben sich derzeit auf dem Gebiet der Proteomik), körpereigene und körperfremde DNA (z.B. jene von Krankheitserregern), Knochenfette, und das Knochenmineral selbst. Das breit gefächerte Methodenspektrum erlaubt nicht nur die Rekonstruktion und den raum/zeitlichen Vergleich von frühen Bevölkerungen unter verschiedenen Umwelt- und soziokulturellen Bedingungen, sondern eröffnet darüber hinaus den Zugang auf die Verhaltensebene, z.B. hinsichtlich der Subsistenzökonomie, der Pflege von Kindern, betagten oder kranken Personen, der anthropogenen Umweltgestaltung und des Migrationsverhaltens.
Zeitlich gesehen steht die Prähistorische Anthropologie zwischen der Paläoanthropologie und der Forensischen bzw. der Anthropologie heute lebender Menschen. Methodisch und inhaltlich bestehen zahlreiche Überschneidungen, wie etwa in Bezug auf die Identifikation, die Taphonomie, die Demografie, die Paläopathologie, die Paläogenetik, und der Mensch/Umweltbeziehungen im zeitlichen Verlauf. Enge Beziehungen bestehen – der Natur menschlicher Bevölkerungen entsprechend – zur Ethnologie und vor allem zu den Archäologien. Dies ist nicht nur deshalb der Fall weil die Skelettfunde im Zuge denkmalpflegerischer Maßnahmen ergraben werden, der gesamte Bestattungskontext geht selbstverständlich in die Interpretation mit ein.
Die Prähistorische Anthropologie rekonstruiert frühe Lebensbedingungen und stößt damit auf breites öffentliches Interesse. Ihre Forschungsergebnisse werden dem Publikum häufig in den Medien und vor allem in Museen nahegebracht. Wie an die Untersuchung der Skelettfunde selbst sind auch an die Öffentlichkeitsarbeit hohe ethische Ansprüche zu stellen (Gisela Grupe).