Die Paläodemografie ist ein unverzichtbares Merkmal anthropologischer und archäologischer Arbeit und steht in engem Bezug zu einer Reihe von Nachbardisziplinen. Üblicherweise versteht man unter Paläodemografie in der Anthropologie die Bestimmung von Alter- und Geschlecht am menschlichen Skelett und die statistische Aufbereitung der Alters- und Geschlechtsverteilung von Populationen. Geschlechts- und altersspezifische Merkmale und Veränderungen am Skelett stehen dabei für die morphologische und metrische Analyse zu Verfügung, doch auch histologische und molekulare Verfahren sind wichtig.
Daten zur Verteilung von Alter und Geschlecht in den untersuchten Bevölkerungen können dazu verwendet werden, die üblichen demografischen Informationen wie Lebenserwartung, Mortalität oder Fertilität, Familiengrößen und Repräsentanz zu berechnen. Paläodemografische Analysen sind die Basis für viele weiterführende Interpretationen und stellen Daten zur Verfügung, die bestenfalls in einen zeitlichen und räumlichen Kontext eingeordnet werden sollten. Beispielsweise können die Informationen für demographische Simulationen verwendet werden.
Altersbestimmung bei Säuglingen und Kinder
Auf einer Vielzahl archäologisch untersuchter Friedhöfe und Gräberfelder aus unterschiedlichen Zeiträumen kommen sehr wenige Kinderbestattungen zu Tage. An Bevölkerungen heutiger sich entwickelnder Länder und im Vergleich zu historisch belegten Bevölkerungsdaten sollte eine hohe Kindersterblichkeit bei vormodernen Populationen die Regel sein, insbesondere vor dem durch die Industrialisierung eingeläuteten demografischen Übergang hin zu weniger Geburten und mehr Geburtenkontrolle und der Verfügbarkeit von Antibiotika.
Die Geburtenrate und die Säuglings-/ Kindersterblichkeit wirken sich auf den Prozentsatz an Kinderbestattungen auf Gräberfeldern aus. Doch auch soziale Faktoren (z.B. nur eine spezifische Auswahl der Verstorbenen durfte auf dem Friedhof beigesetzt werden), Effekte des Totenkults, die Bodenerhaltung und die Sorgfalt der Ausgräber wirken sich auf die Vollständigkeit der dem Anthropologen schlussendlich vorliegenden Skelettreste aus.
Säuglinge und Kinder lassen sich hinsichtlich der großen Veränderungen beim Knochenwachstum und des Zahndurchbruchs relativ gut altersbestimmen. Da sich aber erst im Zuge der Pubertät geschlechtsspezifische Merkmale am Skelett ausprägen, kann das Geschlecht erst bei Jugendlichen mit ausreichender Sicherheit bestimmt werden. Allerdings stehen immer mehr Methoden zur Verfügung, die auch Geschlechtsbestimmung bei Kindern unter Vorbehalt zulassen.
Altersbestimmung bei Erwachsenen
Das Alter von Individuen, die im Erwachsenenalter verstarben, lässt sich nur bedingt präzise bestimmen. Die altersspezifischen osteologischen Merkmale, die zur Altersbestimmung herangezogen werden, hängen stark von individuellen Faktoren wie Ernährung, Gesundheit und Arbeitsbelastung ab, denen die zu bestimmende Person zu Lebzeiten ausgesetzt war. Trotz chronobiologischer Gesetzmäßigkeiten altern Personen individuell, und ihre Skelette unterscheiden sich daher umso mehr, je mehr Jahre sie den verschiedenen Bedingungen ausgesetzt waren.
Histologische Methoden, beispielsweise die Zahnzementannulation(TCA), haben teilweise zu einer Verbesserung der Bestimmungsgenauigkeit beigetragen. Doch in der Praxis muss das Sterbealter eines Individuums als ein biologisches Alter angesehen werden, das von dem tatsächlichen chronologischen Alter der Person abweichen kann. Vergleiche mit enthnografischen Populationen und historisch-demografischen Studien, welche zumeist einen relativ direkten Zugriff auf das chronologische Alter haben, werden dadurch erschwert.
Sterbetafeln und Dynamik
Weitere Probleme verursacht die Annahme, dass Populationen, die anhand einer Sterbetafel untersucht werden, keinerlei demografische Dynamik aufweise dürfen. D.h. Sterbetafeln funktionieren nur mit Populationen, die über den Untersuchungszeitraum hinweg weder wachsen, noch sich verkleinern. Migration sollte auch nicht stattfinden. Was archäologische und historische Zeiten und Räume betrifft, kann man davon ausgehen, dass Sterbetafeln fast nie exakt zutreffende Bevölkerungsdaten produzieren. Wenn man sich aber ihrer Schwächen bewusst ist, stellen sie ein unverzichtbares Werkzeug der Paläodemografie dar, beispielsweise als Basis für komplexere Simulationen.
Mimikry-Effekt
Eine spannende Herausforderung für die Paläodemografie ist der Mimikry-Effekt, der der untersuchten Population die Bevölkerungsstruktur der Bevölkerung überstülpt, an der die Altersbestimmungsmethoden entwickelt wurden. Anatomiepopulationen haben natürlich eine äußerst unnatürliche Alters- und Geschlechtsverteilung und unterscheiden sich von den üblichen von Anthropologen untersuchten Populationen. Statistische Verfahren, welche Bayes‘ Theorem verwenden, können dem Mimikry-Effekt entgegenwirken.
Das Osteologische Paradox
Die wohl bedeutsamste Arbeit auf dem Gebiet der Paläodemografie ist eine theoretische Abhandlung zum Einfluss demografischer Dynamiken, selektiver Mortalität und der individuellen Reaktion eines jeden in der Population auf Risiken. Nur in Verzahnung mit der Analyse der demografischen Dynamik, z.B. des Einflusses von Krankheiten auf die Sterblichkeit infizierter Individuen, können etwa Lebensbedingungen vergangener Bevölkerungen verstanden werden. Aber auch soziale Faktoren können sich möglicherweise auf komplexe Weise ähnlich auswirken, wenn beispielsweise die soziale Stellung eines starken Einflusses auf Lebensbedingungen hat (Andreas Düring).